Thursday, February 23, 2012

Erste Enthüllungen

Im Laufe des nächsten Morgens, an dem nach wie vor sehr gedrückte Stimmung
herrschte, wurden wir Zeuge eines Streits zwischen Dara und ihrem Vater. Ich
wollte wirklich nicht lauschen, aber sie stritten so laut, man kam gar nicht
umhin, sie zu hören. Jedenfalls bekam ich mit, dass es um Cordovan, den Jagd-
aufseher des Dorfes ging, an dem Dara offensichtlich Gefallen gefunden hatte.
Scheinbar hatte ihr Vater jedoch etwas dagegen einzuwenden. Dara flüchtete
sich nach einigem Geschrei in die Kerzenzieherei, in der inzwischen gründlich
sauber gemacht worden war.
Da es sonst nicht wirklich viel zu tun gab, liefen wir ein wenig im Dorf herum
und hörten uns nach Geschichten von Skeletten und Rüstungen um. Auch bei
Dara sahen wir natürlich mal vorbei und fragten sie ein wenig aus. „Worüber
habt ihr euch denn so gestritten?“, fragte ich sie unschuldig. „Ach, es ging um
Cordovan. Mein Vater will mir verbieten, mich mit ihm zu treffen. Aber er
sagt mir nicht warum! Auf jeden Fall kann er mir keinen vernünftigen Grund
nennen!“ Wir versprachen ihr, mal mit ihrem Vater zu reden – vielleicht würde
er uns ja einen vernünftigen Grund nennen können.
Zunächst jedoch gingen ein paar von uns zur Müllersfrau, die scheinbar nicht
sehr viele Freunde hatte, da sie und ihr Mann aus der Stadt zugezogen waren.
Wir leisteten ihr ein wenig Gesellschaft und überredeten sie, später mit zum
Wirtshaus zu kommen. Mir schien sie eine sehr nette Frau zu sein – ich konnte
gar nicht verstehen, warum sie im Dorf so gemieden wurde.
Anschließend gingen wir mit ihr ins Gasthaus zurück, wo wir uns eine Weile
mit der Wirtin Josmine unterhielten, und scheinbar hatte auch Caya, die Mül-
lerin, ihren Spaß dabei. Als Josmines Mann Bermann Zeit und Muße für ein
Schwätzchen hatte, fragten wir auch ihn zu dem Streit vom heutigen Morgen,
doch er sagte nur, das ginge uns nichts an, Cordovan sei ein „Schürzenjäger“,
und er mache sich nur Sorgen um seine Tochter. Wir sollten nur mal Maren, die
Schmiedin fragen! Aber so richtig überzeugend war diese Vorstellung nicht. So
beschlossen wir, mal mit Maren und Cordovan zu sprechen.
Vorher baten wir jedoch Caya, ihr Boot benutzen zu dürfen, um nochmal
zum See zu fahren, bei dem Reina und Ganymed das Skelett am vorigen Tag
aus den Augen verloren hatten – denn seine Rüstung sah genauso aus wie die,
die beim ermordeten Vilbert Bärentod im Schrank gehangen hatte. Nur etwas
stärker beansprucht, versteht sich. Caya lieh uns das Boot gerne, und so fuhren
und liefen wir zum See. Dort angelangt entdeckten wir tatsächlich mitten im
See auf einer Insel ein Skelett mit Rüstung!
Da das Ruderboot nur zwei große Leute auf einmal fasste, mussten wir mehr-
fach übersetzen, bis alle, die dabei sein wollten, auf der Insel waren. Das waren:
Ithilwen, Elwedritsch, Cliona, Farand, Guineth und ich. Der Plan war, das Ske-
lett irgendwie festzuhalten, so dass wir mit ihm reden konnten – wie auch immer
man mit einem Skelett reden will. Wir hatten auf der anderen Seite der Insel
angelegt, so dass ein Felsen uns vom Skelett trennte. Leise schlichen wir um den
Felsen herum, und da lag es. Es schien zu schlafen. Farand trat einen Schritt
vor. „Hallo?“ Das Skelett zeigte keine Reaktion. Farand trat noch einen Schritt
vor. „Entschuldigung?“ Plötzlich bewegte sich das Skelett, sprang auf und stürz-
te aufs Wasser zu. Dann passierte ganz viel gleichzeitig: Der Boden vor dem
Skelett wurde ganz matschig, Elwedritsch pustete irgendein Pulver aus einem
kleinen Röhrchen auf den Matsch, und Seile, die aus dem Nichts entstanden wa-
ren, schlangen sich um Arme und Beine des Skeletts. Es wehrte sich heftig, kam
aber nicht frei. Es machte komische klackende Geräusche, die keiner Sprache
ähnlich klangen, die ich kannte. Allerdings stelle ich es mir auch eher schwierig
vor, als Skelett zu sprechen. Oder gar zu essen – wie furchtbar das sein muss,
jahrhunderte nichts essen zu können!
Verzweifelt versuchten wir in allen uns bekannten Sprachen, dem Skelett
verständlich zu machen, dass wir ihm nichts tun wollten, aber lange Zeit ohne
Erfolg – bis Cliona in eine mir bis dahin völlig unbekannte, jetzt jedoch sehr
geläufige Sprache verfiel. Es war Maralinga, wie sie uns später erklärte, die Spra-
che der Valianer. Das Skelett beruhigte sich auf ihre Worte hin etwas, machte
aber weiterhin klackernde Geräusche. Cliona sagte wieder etwas, es klang nach
einer Frage, das Skelett nickte und klackerte. Das ging eine ganze Weile so, bis
die Seile irgendwann vom Skelett abfielen. Wir schipperten wieder gemütlich
zum Ufer zurück, das Skelett mit uns, und erst dort erklärte Cliona uns, was sie
erfahren hatte. Wir sahen jetzt, dass das Skelett einen Schlüssel um den Hals
hatte.
Das Skelett bestätigte uns, dass es das einzige seiner Art war, das hier rum-
lief, dass es aber manche Leute gab, die nachts in einer Rüstung, die seiner
glich, herumliefen. Wer das war, konnte es uns allerdings nicht sagen, denn
seine Antworten beliefen sich auf „ ja“ und „nein“. Außerdem konnten wir mit
einigem Herumraten herausbekommen, dass es auf einen „Meister“ wartete, der
wiederkommen sollte, und dass es noch mehr von den Schlüsseln gab.
Da das Skelett nicht mit ins Dorf kommen wollte, ließen wir es im Wald,
wo es auf uns warten wollte. Dann sprachen wir mit Maren, der Schmiedin.
Sie gab ohne Umschweife zu, eine Rüstung zu besitzen, wie auch Vilbert sie
besessen hatte, konnte uns aber nicht sagen, woher sie stammte, und wollte
von Schlüsseln nichts wissen. Zu Cordovan sagte sie nur, dass er ihr eine Zeit
lang hinterhergelaufen sei, aber von ihr einen Korb erhalten habe. Ein erneutes
Gespräch mit dem Wirt, bei dem ich nicht zugegen war, muss wohl in einen
heftigen Streit ausgeartet sein – jedenfalls hat er uns rausgeschmissen. Einfach
so! Ich meine, was ist das denn für eine Gastfreundschaft, Gäste rauszuschmei-
ßen, nur weil sie ein paar Fragen stellen? Das ist doch unmöglich! An den Rest
des Tages kann ich mich nicht mehr wirklich erinnern, weil diese unglaubliche
Unhöflichkeit der großen Leute mir so zu schaffen machte. Die anderen redeten
noch mit allen möglichen Leuten, scheinbar waren sie an diese Ungepflogen-
heiten gewöhnt. Am Abend behaupteten sie dann, sie wüssten jetzt, wer alles
Rüstungen und Schlüssel hätte. Woher sie das mit den Schlüsseln jetzt wieder
wussten, konnte ich mir nicht erklären, aber wenn sie da so zuversichtlich waren,
dann würden sie schon wissen, was sie wussten und was nicht. Oder so.
Jedenfalls quartierten wir uns für diese Nacht beim Müller ein, da der Wirt
uns ja nicht mehr da haben wollte – so eine Unverschämtheit! Da war es zwar
jetzt sehr voll, aber irgendwie konnte man schon schlafen. Niphredil und Gany-
med zogen es vor, draußen auf einem Baum zu schlafen, also mussten wir nicht
ganz so viel stapeln. Nach einer weiteren halben Stunde, in der ich mich noch
über den Wirt aufregte, schlief auch ich endlich ein.

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